Reichtum ist relativ

Über die Definition von Geschenken und das Geschenk an sich selbst - WPK 2024

Geschrieben von Anna-Lena Gröh (Ladies' Circle 101 Bremen)

 

Weihnachten und Geschenke sind für das durchschnittliche deutsche Kind so selbstverständlich wie die Tatsache, dass die Sonne morgens aufgeht. Wirft man einen Blick in die Ostländer Europas, sieht die Sache ganz anders aus. Die Lebenshaltungskosten decken dort oft gerade einmal den Bedarf zum Überleben. Korruption ist Normalität und ein Berg voller Geschenke Teil des westeuropäischen Traums. Die fleißigen helfenden Hände, die jedes Jahr im Rahmen des Weihnachtspäckchenkonvois gemeinsam in die östlichen Länder Europas fahren, setzen genau hier an. Als eine der 260 Personen, die in diesem Jahr fast 150.000 Geschenke an Kinder in Krankenhäusern, Kindergärten, Behinderteneinrichtungen und Schulen übergeben haben, kann ich sagen: Vier Tage, die sich anfangs noch wie eine Klassenfahrt anfühlen, können durchaus mal so eben den inneren Kompass auf das ausrichten, was im Leben wirklich wichtig ist - vor allem in Bulgarien.

 

Hinter mir höre ich wieder den kurzen tiefen Ton eines hupenden LKWs, alle 30 Sekunden wird es ein Ton mehr. "Ja, direkt vor mir ist aber kein Polizeiwagen, der mir das Signal zum Losfahren geben soll." Das hat mir der nette Mann mit der neongelb leuchtenden Warnweste über der roten Jacke zuvor angekündigt, als ich bis nach ganz vorne fahren sollte. So langsam werde ich nervös. Über Funk kommt auch nichts. Hinter mir ertönt erneut die Hupe. Ich werfe dem Funkgerät einen verärgerten Blick zu. Verdammt. Natürlich ist es mit dem Abschalten der Zündung ausgegangen. Im gleichen Moment erkennt mein Beifahrer Frido das Problem. Auch er ging davon aus, dass die ganzen LKWs hinter uns einfach nur ein freundliches 'Auf Wiedersehen' für die vielen zum Abschied winkenden Hände waren. Links neben mir klopft es. Ein deutlich genervter, nicht mehr ganz so nett dreinschauender Mann gibt mir das Zeichen zum Losfahren. 

 

Nun gut, wenige werde von sich im Alter sagen können, dass sie mal eben den gesamten Weihnachtspäckchenkonvoi 2024 - damit insgesamt 33 LKWs, 6 Busse und 10 Begleitfahrzeuge inklusive 260 Helferinnen und Helfern - fünf Minuten aufgehalten haben. Ich sollte aufhören, daraus gedanklich jetzt schon eine gute Geschichte zu machen. Glücklicherweise ist mein Gehirn willig, den Gedanken in den Hintergrund zu drängen und Kapazitäten für eine entscheidende Frage freizumachen: Was darf ich wohl in den nächsten sieben Tagen auf meiner Reise mit dem Weihnachtspäckchenkonvoi 2024 nach Bulgarien alles verarbeiten? Eins steht fest: Die Namen aller 259 Menschen, die ich eben warten ließ, werden es nicht ins Langzeit-Areal schaffen. 

 

Der Beginn einer 36-stündigen Reise

Meine Reise ging bereits gestern in Bremen los. Peter aus Ovelgönne nahm mich mit in den Süden. -So wie er kommen viele aus dem Raum Wesermarsch - von der schlechten Weserseite also. Naja, müssen Leute wie Udo ja selbst wissen. Seinen Namen habe ich mir direkt gemerkt, denn ungefähr dreißig Minuten nach Start stellte er mir die wohl bekloppteste Frage von der Rückbank aus: „Und, hast du schon angefangen, über dein Leben nachzudenken?” Ich muss lachen. Krass…tauchen hier alle so schnell in die Konversations-Tiefsee ab? Ich meinerseits bin ja gerade noch damit beschäftigt, den Schock vom Losfahren verdauen. Der Rest meines Bus-Trupps startet gewöhnlicher ins Kennenlernen. Ich erfahre, dass alle – ganz repräsentativ zum Rest der diesjährigen Mitfahrer – von überall aus Deutschland angereist sind. In Hanau kommen alle zusammen. Von hier geht es in großen Reisebussen, kleineren Transportern und LKWs nach Polen, Moldawien, Rumänien und - mein Ziel - Bulgarien. 

 

Wie bereitet man sich auf eine so lange Fahrt vor? Was packt man ein? Zwei volle Tage kann man direkt abziehen, da sitzt man sowieso nur im Bus und einen Klamottenwechsel legt niemand hin. Diejenigen, die nach Moldawien reisen, sind 48 Stunden unterwegs - einfach. "Die ersten 24 Stunden ist noch alles entspannt", erzählt mir Peter auf unserer ersten Etappe. "Nach 24 Stunden merkt man, dass die Abstände zwischen den Pausen kürzer werden, die Fahrer müssen sich bewegen." Zwei Tage und zwei Nächte einfach nur fahren. Drei Tage am Ziel und dann das gleiche zurück. Mehr fahren als da sein. Für die einen ist das kein Problem. Für andere ist genau das die große Herausforderung. 

 

Ich übernehme bei uns die erste Etappe. Vier Stunden zum ersten Stopp in Regensburg. Einen Bulli habe ich bis gestern noch nie gefahren. Aber Peter ließ mich schon auf unserer Strecke von Ovelgönne nach Hanau die zweite Hälfte hinters Steuer. Ich frage mich, ob es einen internen Wettbewerb gibt, wie viele Novizen man wie oft ins kalte Wasser schmeißen kann. Egal. Learning by doing. „Das scheint hier ohnehin Programm zu sein”, denke ich mir beiläufig. Warum sich dagegen also wehren?

 

„Keine Sorge, bei mir war das auch so bei meinem ersten WPK.” Würde dieser Satz nicht so oft fallen, ich schwöre, die Reizüberflutung hätte mich umgebracht. Unsicherheit ist hier so normal, wie beim Fahrradfahren lernen. Die Stützräder tragen hier rote WPK-Jacken, genau wie man selbst. Man packt mit an und teilt seine Erfahrungen. Maximal sozial. Ein gesunder Egoismus bleibt trotzdem nicht aus, denn niemand fährt hier aus rein altruistischen Gründen mit. Jeder nimmt etwas für sich mit. Neue Erfahrungen, das Netzwerk, die Gemeinschaft und das unglaublich gute Gefühl, für die gute Sache unterwegs gewesen zu sein. Als Neuling schnappt man automatisch einige Geschichten auf. Nicht alle sind positiv. Interessant sind vor allem Erzählungen von denjenigen, die schon von Beginn an mitfahren und den Weg für die folgenden Tour-Jahre geebnet haben. 

 

Die Spitze des Geschenkebergs

Zu diesen Menschen gehört auch Björn. Er übernimmt die Tourleitung nach Bulgarien - Montana. Bis kurz vor knapp war nicht klar, ob er überhaupt mitfahren kann. Mandelentzündung. Seit gestern Abend erst schlägt das Antibiotikum an. Auf der zweiten Etappe sitzt er neben mir und arbeitet die ganze Zeit. Schneidet unter anderem das Drohnen-Video, das er heute Morgen von allen aufgenommen hat, um die WPK-Fans über die sozialen Netzwerke möglichst aktuell auf dem Laufenden zu halten. Allgemein ist die erste Dezemberwoche nur die Spitze der enormen logistischen Leistung, die eine Menge mehr Menschen über das Jahr hinweg - auf freiwilliger Basis - auf sich nehmen, damit wir alle gemeinsam diese Erfahrungen machen dürfen. Damit ich gerade jetzt neben Björn sitzen, Musik hören und all das für meine textbasierte Kreativität nutzen darf. Wenn so viele Menschen bereit sind, diese Strapazen auf sich zu nehmen, wie könnte sich das, was da auf mich zukommt nicht für jeden Einzelnen lohnen? 

 

Nach und nach lassen wir viele Kilometer und mehrere Stunden hinter uns. Beim Grenzübertritt am nächsten frühen Morgen zwischen Ungarn und Serbien brauchen wir sechs Stunden. Schlangestehen und Papierkram will Weile haben. Diejenigen, die das erste Mal dabei sind, schlucken. Dem Rest, für den sich der WPK jährt, ist Resilienz anzumerken. Das nächste Stück geht in Richtung bulgarische Grenze. Mit unserer Kolonne aus vier Transportern und vier Kleinbussen kommunizieren wir durchgehend. Nicht immer kommt Sinnvolles durch. Wir halten das beliebte Marmeladenverhältnis 3:1 aus wichtigen Infos und Quatsch. Letzteres lässt uns bei der langen Fahrt und besonders beim zweiten Grenzübergang nicht verrückt werden. 

 

Innerhalb von nur weiteren sechseinhalb Stunden und um ein paar Scheinchen leichter, die wir bei hoch offiziellen serbischen Zöllnern – in Jogginghose – lassen mussten, zischen wir über die Grenze Serbien/Bulgarien. Ich muss aufhören, auf die Uhr zu schauen: 23:00 Uhr. Mittlerweile fühlt sich das ganze eher wie „Zwei Schritte vor, einer zurück“ und weniger nach Klassenfahrt mit Feierlaune, wie noch ein paar Stunden zuvor an. Welcher Wochentag ist, weiß ich längst nicht mehr. Sabina sagt richtig: "Wer hier mitfährt, kann sein Zeitgefühl in Hanau abgeben." Darunter setze ich meinen Stempel. Drei Stunden später kommen wir nach über 40 Stunden endlich an. 

 

Freude ab Tag 1

Um 9:00 Uhr am nächsten Morgen geht es direkt los. Vier Stunden Schlaf, ein nötiger Kaffee und ein Frühstück später fahren wir gemeinsam los nach Mizia, unser ersten Anlaufpunkt für das Päckchenverteilen. Der örtliche Round Table lädt derweil kurz vor unserer Abfahrt schon die ersten 1.400 Päckchen in kleine Transporter und fährt sie mit der Hälfte unseres Trupps zu Stationen in der Nähe. 

 

Wir fahren circa eine Stunde mit dem Bulli zu unserer ersten Anlaufstelle. Hier geht ebenfalls alles recht flott. Wir bekommen eine Liste, wie viele Päckchen wir brauchen. Dann wird eingeladen und zu unserer ersten Station gefahren: ein kleiner Kindergarten. Geschenke übergeben wir dort als erstes an eine Gruppe von Dreijährigen. Im selben Kindergarten später auch noch an zwei ältere Gruppen. Und ganz ehrlich? Wir ernten nicht nur fröhliche Gesichter, aber dafür reine Emotionen. Die Mimik reicht von leicht verängstigt über zurückhaltend bis hin zu strahlend vor Glück. Alles dabei. 

 

Gleiches spielt sich bei den restlichen Stationen ab, die wir an diesem Tag noch besuchen werden. Viele davon etwas als Dankeschön vorbereitet. Meistens wird getanzt. Thomas wird spontan aufgefordert, die Kindergärtnerin bei ein paar Drehungen zu führen. Mit tänzerischem Talent geizt der Schwabe nicht. 

 

Nachdem wir wieder beim LKW sind, um den Bulli mit neuen Päckchen vollzuladen, holen Jürgen und ich uns einen Kaffee. Wir laufen ein Stück die Straße runter. Hier sieht man zum ersten Mal etwas von den echten Lebensverhältnissen hier in der Stadt. Es gibt kaum ein Haus, an dem die Fassaden nicht mit Rissen durchzogen sind. Dabei ist das wohl schon die bessere Version. Jürgen fuhr das erste Mal 2004 beim WPK mit. "Damals sah hier alles noch viel schlimmer aus", erzählt er. Glauben kann man das nicht. Jessis 17-jähriger Bruder hatte sie vor der Reise gefragt: "Warum bringt ihr denn Geschenke nach Bulgarien? Das ist doch Teil der EU." Ja, aber einer der ärmsten Teile. In Sofia könnte man meinen, dass dieses Land durchaus in der Lage sein sollte, für die eigenen Kinder Geschenke zu organisieren. Aber hier? Fällt schwer zu glauben.

 

Gegen Nachmittag macht sich der Schlafmangel bei allen bemerkbar. Ich merke, dass mir die Lautstärke der Kinder zu schaffen macht. Für heute haben wir aber alle Stationen abgefahren, die wir auf der Liste hatten. Wir fahren zurück ins Hotel und ziehen uns für ein paar Stunden in unsere Zimmer zurück. Wer jetzt einschläft, weiß, dass er sein erstes Abendessen wohl verpassen wird. Ein paar Stunden später sitzen wir mit der lokalen Bürgermeisterin zusammen bei viel Essen und Alkohol. Ich probiere den Rakija und stelle mal wieder fest, dass diese Art von Alkohol an mich verschwendet ist. 

 

Zurück zu den Wurzeln

Am nächsten Tag fahren wir wieder viele Stationen an. Einen Halt machen wir bei einer Grundschule. Nach dem Verteilen der Geschenke lädt uns die Direktorin zu Keksen und Tee ein. 40 Jahre lang hat sie bereits für diese Schule gearbeitet, erzählt sie auf Bulgarisch. Übersetzen kann die Englischlehrerin - in meiner Muttersprache. Sie hat 21 Jahre lang in der Schweiz gelebt und kam zurück. Heimweh hat sie dorthin zurückgebracht, wo ihre Eltern und Großeltern aufgewachsen sind. Sie erzählt uns, dass viele Menschen für die Arbeit in die größeren Städte ziehen. Solche Geschichten kennt man aus Deutschland. Mir kommt die Song-Zeile aus AnnenMayKantereits Tommi in den Sinn. “Da, wo mer zosamme groß jeworde sin, da ziehen mer alle irgendwann wieder hin. Damit die Kinder, die mer krieje könn, alle in Kölle jebore sin.” 

 

Aber in Deutschland sind die Lebensbedingungen auch auf dem Land deutlich besser. Warum macht man das hier? In meinem Kopf tauchen Peters Worte von ich weiß nicht mehr, vor wie vielen Tagen, wieder auf: "Reichtum ist Definitionssache." In die weite Welt ziehen und bleiben viele für andere und Geld. Zurückkehren tun sie für geliebte Menschen und damit für sich selbst. Hier in Bulgarien sind die Menschen sowieso reich an vor allem drei Dingen: sozialem Zusammenhalt, Gastfreundschaft ... und Schlaglöchern. 

 

Davon nehmen wir heute auf unserem Weg durch die bergigen Straßen einige mit. Im Bulli ruckelt es weniger als im LKW. Eine kurze Strecke darf ich im Fahrerhaus bei Alex mitfahren. Alex kommt aus Hessen und ist zum zweiten Mal dabei in Bulgarien. Jeder, der beim Konvoi mitfährt, muss sich scheinbar erst einmal einem Basis-Resilienz-Test unterziehen. Bei ihm war das im letzten Jahr nichts anderes, als ihm eröffnet wurde, dass er gerne die erste Fahrt übernehmen kann. Damals hatte er noch nie einen LKW dieser Größenklasse gefahren. 2,50 m breit, 4,00 m hoch und 18 m lang. Dieses Gefährt muss man erstmal bewegen können. Ein Jahr später begleitet Alex schon mehr Routine. Die Schlaglöcher nimmt er mit einem flotten Spruch auf den Lippen hin. Gelassenheit lernt man hier schnell. Es sei denn es heißt Kartons aus dem LKW laden. Hier herrscht jedes Mal Chaos mit System, nur leider haben alle ein anderes.

 

Beim nächsten Anlaufpunkt teilen wir wieder Geschenke aus und dürfen uns über eine Menge Freudestrahlen ernten. Fast überall erhalten wir etwas als Dankeschön. Bei dieser Station nehmen wir fast mehr Geschenke mit, als wir verteilen. Dabei sind wir doch die mit den Geschenken. Meistens überreichen uns die Leiterinnen und Leiter der Organisationen selbstgemachtes Essen. Von den Kindern bekommen wir selbstgefertigte Dekoration, die wir mit einem ehrlichen Lächeln entgegennehmen. Mir ist jetzt schon klar, dass wir mit den roten Jacken wohl mehr teilen müssen als gemeinsame Erinnerungen. Unter jene werden für mich auch die unzähligen Flachwitze von Frido fallen, die er beim Essen in unserem Hotel in Wraza zum Besten gibt. Zwischen Waldtieren auf Drogen und betrunkenem Jesus lassen wir den Abend Freudentränen lachend ausklingen.

 

Im Auftrag von Santa

An Tag drei gehen wir zuerst in einen Kindergarten. Dieser wurde von der Schweiz gestiftet. Sieht man. Könnte auch so in Deutschland stehen. Drei Gruppen dürfen wir dort heute mit Geschenken überraschen - gemeinsam mit Santa. Wir spielen heute helfende Elfen, die dem Mann mit dem weißen Rauschebart und dem viel zu warmem roten Anzug die Geschenke anreichen dürfen. Gegen Santa kommen wir nicht an. In jeder Gruppe gibt es aber mindestens ein Kind, dem der Nikolaus nicht geheuer ist - auch wenn er heute Brille trägt und ein wenig schwitzt. Die unbehagliche Reaktion auf den Nikolaus kenne ich nur zu gut. Als Kind hatte ich für die Möchtegernschauspieler auch nur vernichtende Tränen des Horrors übrig. Man muss skeptisch bleiben. 

 

Jedes Mal fragt Santa die Kinder, was sie sich zu Weihnachten wünschen. Von Ivan, unserem bulgarischen Ansprechpartner, der uns auf jeder Tour begleitet, erfahren wir nicht nur klassische Kinderwünsche. Ein kleiner Junge wünschte sich, von Santa nicht schlimmer geschlagen zu werden als von seinen Eltern. Ein anderes Mädchen möchte, dass ihre Eltern aus Deutschland wiederkommen, weil sie dort zum Arbeiten hingegangen sind. Es fällt mir schwer, in diesem Moment nicht zu hart zu urteilen. Man steckt aber nicht drin in diesen Lebensverhältnissen. Manche Eltern wissen sich nicht besser zu helfen. In diesem Moment wünsche ich mir für diese Kinder, dass sie sich im nächsten Jahr mit weniger realistischen Wünschen auf den Besuch des Weihnachtsmanns vorbereiten dürfen. Der ein oder andere verlässt diese Station mit Tränen in den Augen. 

 

Im krassen Kontrast zum hochmodernen Kindergarten steht die darauffolgende Station: eine Grundschule im Roma-Dorf. Ein langes, altrosa, verblasstes Gebäude taucht vor uns auf. Die Klassenzimmer sind nicht wie gewohnt durch einen Innenflur verbunden. Jeden einzelnen Raum erreichen wir nur von außen. Der Geruch von Rauch liegt in der Luft. Lange muss man nicht mit den Augen suchen, um die Ursache festzustellen. Geheizt wird mit Kaminöfen. Hier lässt sich die Armut des Dorfes nicht verheimlichen. Sollte nicht also hier das Gefühl von „die Kinder haben diese Weihnachtsgeschenke nötig“ – verglichen mit allen anderen bisherigen Stationen – eigentlich am prominentesten sein? Wenn man aber den Wunsch des Jungen aus dem Kindergarten von vor ein paar Stunden mit auf die Waagschale legt, scheint alles relativ.

 

Weihnachten hat eine andere Bedeutung

Am Abend kehren wir wieder an das Hotel in Wraza zurück. Hier hat ein kleiner Weihnachtsmarkt geöffnet. Circa zehn Stände sorgen für wenig Reizüberflutung und eine weihnachtliche Stimmung. Man hat das Gefühl, dass Weihnachten hier eine ursprüngliche Bedeutung hat. Je moderner das Sozialsystem, desto weniger Weihnachten. Wie heißt nochmal der einmal zu oft gelesene Tassen-Spruch: Früher war mehr Lametta. Wenig weihnachtlich schmeckt hier dann aber doch der Glühwein. Gewürze werden hier wohl genauso überbewertet wie Zebrastreifen. 

 

Am nächsten Tag sind fast alle Geschenke verteilt, die wir mitgebracht haben. Gestern haben wir uns noch Sorgen gemacht, dass wir nicht alle loswerden. Aber irgendwas ergibt sich immer. Auf unserem Weg in Richtung der bulgarischen Hauptstadt machen wir nochmal einen Geschenkehalt - irgendwo im nirgendwo. Wie könnte es anders sein, uns kommt mal wieder ein Ansprechpartner in Jogginghose entgegen. Vielleicht sind wir Deutschen insgesamt einfach zu spießig in dem, wie wir unsere Ämter bekleiden. Die Bulgaren scheinen jedenfalls einen ähnlichen Geschmack zu haben wie die serbischen Zöllner. "Bulgarien wäre verloren ohne Jogginghose", stellt Jürgen folgerichtig fest. 

 

Dieser Anlaufpunkt sollte für unsere Gruppe der letzte im Rahmen dieses Weihnachtspäckchenkonvois bleiben. „Alles andere als romantisch”, denke ich mir, als wir die liebevoll verpackten bunten Päckchen einfach so dem vermeintlichen Landwirt durchs Fenster seines Torhäuschens anreichen. Aber für die Erfüllung unserer romantischen Erwartungen sind wir ja auch nicht hergekommen, obwohl wir diesbezüglich bei vielen Anlaufstationen definitiv nicht enttäuscht wurden. 

 

Leere Transporter, volle Köpfe

In Sofia checken wir ins Hotel ein. Viele erkunden die Hauptstadt für ein paar Stunden. Ich nicht. Mittlerweile bin ich erkältet und entscheide mich - mit Blick auf die lange Heimreise - dazu, ein paar ruhige Stunden im Hotelzimmer zu verbringen und mir die Hauptstadt vom 12. Stock aus anzusehen. Die deutsche Vernunft holt mich frühzeitig zurück. “Vielleicht sollte ich mir eine Jogginghose anziehen”, denke ich mir, bevor ich mich für den Abschlussabend fertig mache. Ein paar Stunden später treffen wir uns im nahegelegenen Restaurant. Dort treffen wir uns mit allen, die in Bulgarien für dieses Projekt in den letzten vier Tagen unterwegs waren. 

 

Bei nicht jedem dachte man am Anfang, dass man sich am Ende so gut verstehen würde. Auf eine seltsame Art und Weise schaffte es nur die gesamte Gruppe, die Version in einem selbst hervorzurufen, die man wirklich zu schätzen lernt. Für viele wird die Kommunikation nach der Ankunft in Deutschland trotzdem abrupt enden. Aber jeder, der hier mindestens einmal mitfährt, schätzt die alten Gesichter genauso wie die neuen. Oft erzählte Geschichten treffen auf solche, die manche noch kein einziges Mal losgeworden sind. Die perfekte Balance zwischen Lauschen und Sprechen, zwischen Geben und Nehmen, für die Dinge, für die wir als soziale Wesen geboren wurden. So natürlich und bereichernd wie atmen. 

 

Ich bin mir sicher, dass es den meisten so geht, die heute Abend ihre Erfahrungsberichte austauschen … bei dem ein oder anderen Glas Rakija versteht sich. Nach und nach schleichen sich bei vielen Gesprächen auch die freudigen Erwartungen an zu Hause ein. Manche sprechen von der Familie, andere von der Badewanne. Ich für meinen Teil freue mich nebst beidem vor allem auf eines: All das, was ich erlebt habe, in einen Text zu packen und damit Leute dazu zu inspirieren, sich selbst das Geschenk zu machen, beim Weihnachtspäckchenkonvoi mitzufahren. Aus folgendem Grund: 

 

Es schadet nicht, einfach mal komplett ohne Erwartungen loszuziehen, um andere - nicht in jedem Verhältnis schlechtere - Lebensverhältnisse kennenzulernen. Es gibt fast nichts, was so sehr erdet, wie einem Kind dabei zuzusehen, wie es - trotz der ärmlichen Lebensbedingungen - so unglaublich viel mehr Freude für ein kleines Päckchen aufbringen kann, als wir, denen es - trotz reichen Lebensbedingungen - an so viel mehr Freude im Alltag zu mangeln scheint. Also ja, Udo, vielleicht habe ich ein bisschen über mein Leben nachgedacht. Wie sagte Julian – derjenige, der mich durch seine Erzählungen aus dem letzten Jahr dazu inspirierte, selbst mitzufahren – so schön: „Entweder man fährt einmal mit und dann nie wieder oder jedes Mal.“